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Inkeri Markkula : Wo das Eis niemals schmilzt

Buchbesprechung von Frank Rehag, Oktober 2025

dt. Erstausgabe: 2025 - mare Verlag, Hamburg
finn. Originalausgabe: 2021 - Otava, Helsinki
Titel der finnischsprachigen Originalausgabe: "Maa joka ei koskaan sula"
aus dem Finnischen von Stefan Moster
»"Als Kind habe ich mir manchmal vorgestellt, ein Wal zu sein", erzählt sie. "Weil ich im Frühsommer immer vom Süden in den Norden gezogen bin und im Spätsommer wieder zurück vom Norden in den Süden, genau wie sie. Erst als Erwachsene habe ich begriffen, dass es da einen gewissen Unterschied gibt. Die Wale befinden sich nämlich immer am richtigen Ort."« (Inkeri Markkula / Stefan Moster | Wo das Eis niemals schmilzt | Seite 142)

Inkeri Markkulas vorliegender Roman Wo das Eis niemals schmilzt erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte und weitläufige nördliche Gebiete, von den 1960er-Jahren bis zu den Anfängen des 21. Jahrhunderts, von Auyuittuq auf der kanadischen Baffininsel zu den Fjälls Lapplands, in den Süden Finnlands und nach Dänemark. Auyuittuq ist dabei Namensgeber, im Inuktitut bedeutet es "Land, das niemals schmilzt". Vor allem aber gibt die Autorin den indigenen Völkern in der Arktis und dem fennoskandinavischen Raum eine Stimme, thematisiert die ethnischen Ungerechtigkeiten und diskriminierenden Behandlungen, die den Inuit und den Sámi widerfahren sind. Hauptfiguren sind die Finnin Unni mit samischen Wurzeln, der Däne Jon mit Inuit-Wurzeln, Helen Jacobsen, Jons Adoptivmutter, sowie Alasie und Nilak, Jons leibliche Eltern.

Im Jahr 2003, Unni ist Glaziologin und erforscht den Lauf des Schmelzwassers als Folge des Klimawandels am allmählich dahinschmelzenden Penny-Gletscher auf der Baffininsel - mithilfe von Gummienten, die sie in Gletschermühlen wirft. Sie fragt sich, ob die Bäche und Flüsse unter dem Gletscher in die Baffin Bay münden, oder ob sich aus ihnen im Inneren des Penny Seen bilden, in denen die Enten jetzt schwimmen. Doch dies ist nicht der einzige Grund ihres Aufenthalts, sie möchte unbedingt Jon wiedersehen, dem sie hier ein Jahr zuvor begegnet ist. Jon wohnte im nahegelegenen Dorf, ein Schneesturm schnitt die beiden damals für eine Weile von der Außenwelt ab und es entwickelte sich eine leidenschaftliche Beziehung, nach ein paar Tagen kehrte Unni nach Finnland zurück. Doch jetzt ist Jon verschwunden und niemand weiß, wo er sich aufhält. Die Leser wissen zu diesem Zeitpunkt bereits mehr: der Roman beginnt mit einer Szene, in der Jon Jacobsen auf das Dach eines Hauses geklettert ist und hinunter stürzt...

Ein Sprung zurück ins Jahr 1962, eine Beziehung zwischen Alasie und Nilak beginnt bereits in deren Schulzeit. Gemeinsam erleben sie den Schulterror in einem der Internate, die der Umerziehung für Töchter und Söhne kanadischer Ureinwohner dienen - ein Schandfleck staatlicher Integrationsbemühungen. Dort wird ihnen ihre Kultur, ihre Muttersprache, alles, was sie bis dahin in ihrer Kindheit erlernt haben, gewaltsam ausgetrieben. Sie werden bestraft, wenn sie das richtige Wort in der falschen Sprache oder das falsche Wort in der richtigen Sprache sagen. Der gemeinsame Schmerz schweißt zusammen, sie heiraten und 1970 erwarten sie ein Kind. Während Nilak in Auyuittuq bleibt, reist Alasie zur Entbindung nach Québec - dort gäbe es bessere Krankenhäuser als das Wohnheim im Gesundheitszentrum von Iqaluit.

Nattiaq wird geboren, es wird festgestellt, dass er vollkommen gesund ist, sein Geburtsdatum wird in Formulare eingetragen, danach wird der Todeszeitpunkt notiert und ein neues Geburtsdatum. Es werden Einwilligungen protokolliert, die nie erteilt worden sind. Das sind die Machenschaften beim kulturellen Völkermord im Rahmen von "Sixties Scoop", als in Kanada zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren geschätzt 20.000 Kinder aus der indigenen Bevölkerung von ihren leiblichen Eltern getrennt und als Adoptivkinder an weiße Mittelstandsfamilien gegeben wurden. Mit dieser Assimilationspolitik zielte man darauf ab, die indigenen Völker in die Mehrheitsbevölkerung zu integrieren. Den adoptierten Kindern gab man neue Namen, Geburtsidentitäten wurden aus allen offiziellen Dokumenten gelöscht.

Während Alasie suggeriert wird, dass Nattiaq bei der Geburt gestorben ist, werden Helen Jacobsen, die selber keine Kinder bekommen kann, und ihr Mann Liam die Adoptiveltern von Jon - angeblich mit der Einwilligung der leiblichen Eltern und der damit verbundenen Möglichkeit auf bessere Lebensbedingungen. Zum Zeitpunkt der Adoption lebt das Ehepaar in Kanada, jedoch zieht die Familie nach einigen Jahren zurück nach Dänemark. Als Jon in seiner Jugend mehr und mehr mit seiner Identität hadert, beginnt Helen, Jons Hintergrund zu recherchieren. Dabei erfährt sie von der hässlichen Wahrheit über den Adoptionsprozess. Mithilfe eines Sozialarbeiters, den sie noch aus kanadischer Zeit kennt, setzt Helen alles daran, Alasie und Nilak ausfindig zu machen und mit Jon zusammenzuführen.

Diskriminierende Behandlungen kennen keine geografischen Grenzen, die Form mag sich von Ort zu Ort unterscheiden. Auch wenn es in Finnland offiziell keine Assimilationspolitik gab, wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er-Jahre angewandt. Samisch zu sprechen war in den meisten Schulen verboten, viele samische Kinder verloren in Internatsschulen die Verbindung zu ihrer Muttersprache und Kultur. In den Schulen auf samischem Gebiet begann samischsprachiger Unterricht im Jahr 1975. Unnis Schulzeit liegt in den 1980er-Jahren. Vor der Einschulung trennt die Mutter das Kind von seinem Vater und nimmt es mit in den Süden Finnlands, weit weg von seinen Wurzeln. Unni sieht anders aus als die Kinder im Süden, im Süden gelten Sámi als ungeschickte, primitive und dumme Wesen, die ständig saufen. In der Schule wird sie systematisch gemobbt, sie hat Angst vor dem Schulweg, vor den Pausen, vor dem Heimweg. Prellungen und zerrissene Kleidung erklärt sie als Ungeschicklichkeit. Aber in den Sommerferien darf Unni zu ihrem Vater in den Norden fahren. Nach Hause. In die Freiheit. In die Natur.

Unnis und Jons Herkunft und familiäre Hintergründe verflechten sich zu Geschichten, die flüssig von einer Zeitebene zur nächsten voranschreiten und sich wie ein roter Faden durch den Roman ziehen. Inkeri Markkula nähert sich den großen und schwermütigen Themen einfühlsam und respektvoll mit einer schönen und bildhaften Sprache (an dieser Stelle auch ein großes Lob für Stefan Moster und seiner Übertragung ins Deutsche). Es ist berührend und bewegend, wie gleichzeitig sowohl die Entwurzelung in einer ungerechten Welt als auch die Verbindung zur Natur beschrieben werden. Hierbei haben die Naturbeschreibungen eine besondere Anziehungskraft - man kann das Rauschen der Gletscherbäche und den Gesang der Wale förmlich hören. Dieser Roman entfaltet Emotionen, deren Wirkung vor allem dadurch unterstützt wird, dass die Perspektiven der Figuren und die Jahre immer wieder wechseln und die Gedanken und Gefühle der Figuren gekonnt in Worte gefasst sind. Man bleibt beeindruckt zurück und am Ende ergeben sich tröstliche und erleichternde Antworten auf all die quälenden Fragen, die einem während der Lektüre durch den Kopf gegangen sind. Ein wunderbarer und zum Nachdenken anregender Roman, der zeigt, zu welcher Kraft und Wirkung Literatur fähig ist, der zugleich eine Hymne an die Schönheit der nördlichen Natur und die Rechte der Ureinwohner darstellt. Absolute Leseempfehlung!
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