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Max Seeck : Waiseninsel
('Jessica Niemi'-Reihe, Bd. 4)

Buchbesprechung von Frank Rehag, März 2024

dt. Erstausgabe: 2023 - Bastei Lübbe, Köln
finn. Originalausgabe: 2022 - Tammi, Helsinki
Titel der finnischsprachigen Originalausgabe: "Loukko"
aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara
Vierter Band der Reihe um Kriminalhauptmeisterin Jessica Niemi und er ist gänzlich anders als die bisherigen drei. Zum einen spielt die hier vorliegende Handlung vorwiegend auf den Ålandinseln statt in Helsinki, zum anderen ist es nahezu ein Niemi-Solo, die Kollegen aus Helsinki kommen dieses Mal nur sporadisch zum Einsatz. Die Handlung ist in sich abgeschlossen und Waiseninsel kann losgelöst von den Vorgängerbänden gelesen werden. Jedoch wäre die Lektüre dieser für das Verständnis der einzelnen Protagonisten mitsamt deren Wesensarten ratsam, insbesondere für den Charakter der Hauptfigur.

Seit Jahren wird Jessica Niemi regelmäßig von den Dämonen ihrer Vergangenheit heimgesucht. Nach dem letzten Fall hat sie sich dazu durchgerungen, professionelle Hilfe einer Psychiaterin anzunehmen. Als sie sich auf dem Weg von einer Therapiesitzung nach Hause in einem Hinterhof übergeben muss, gerät sie in eine Auseinandersetzung mit dem Hausmeister, bei der sie die Nerven verliert. Jessicas Vorgesetzte Helena Lappi ist nicht sonderlich begeistert ob dieser Aktion und legt ihr nahe, eine unbestimmte Zeit in den Hintergrund zu treten. Zu allem Überfluss wurde der Streit gefilmt, das Video geht inzwischen in den "sozialen" Medien viral. Kollege Jusuf Pepple rät ihr, um die Welt zu reisen und die finanzielle Unabhängigkeit endlich mal zu genießen. Doch statt zum Surfen nach Bali verschlägt es Jessica für eine Auszeit auf die Insel Smörregård am südöstlichsten Winkel der Ålandinseln zwischen Schweden und dem finnischen Festland.

Dort trifft sie auf die "Zugvögel", drei ältere Menschen, die sich zu ihrem jährlichen Gruppentreffen auf dem Eiland zusammenfinden. Einst gehörten sie zu einer neunköpfigen Kindergruppe, die nach Beendigung des Krieges von Schweden zurück nach Finnland geschickt wurden. Im August 1946 wurden sie von Stockholm nach Mariehamn auf Åland gebracht, wo sie von ihren Eltern abgeholt werden sollten – doch diese kamen nie dort an, weil deren Schiff im Sturm unterging. Kinder, die keine nahen Verwandten in Finnland hatten, sollten vorläufig auf Åland bleiben. Letzten Endes kamen acht Kinder in einem Waisenhaus auf der Insel Smörregård unter. Zugvögel nannte man sie deshalb, weil man sicher war, dass sie vor Anbruch des Winters davonziehen würden. Seitdem waren sie miteinander verbunden und es ist das Ritual entstanden, bis heute jedes Jahr zu einer Art Klassentreffen zusammenzukommen. Doch aus drei übrig gebliebenen Zugvögeln werden zwei, als Elisabeth Salmi am Ufer tot aufgefunden wird. Jessica Niemis Ermittlerinstinkte erwachen, sehr zum Missfallen des ortsansässigen Kriminalkommissars Johan Karlsson. Während eigener Nachforschungen – auch mit telefonischer Unterstützung ihrer Kollegen in Helsinki – findet Jessica heraus, dass bereits in den 1980er Jahren zwei Menschen unter ähnlichen Umständen zu Tode kamen. Dem Anschein nach stehen alle drei Todesfälle in Verbindung mit der mysteriösen Legende um das "Mädchen im blauen Mantel" – Maija Ruusunen, die damals von einigen der anderen Kindern böse schikaniert wurde und spurlos verschwand. Eines dieser Kinder war Elisabeth Salmi, ein anderes Armas Pohjanpalo, der ebenfalls noch auf der Insel weilt...

Waiseninsel ist zwar nicht mit der Rasanz der Vorgängerbände ausgestattet, dafür ist dieses Buch mehr als die anderen Bücher dieser Reihe atmosphärisch dicht erzählt. Entsprechend des beschaulichen Insellebens gibt es dieses Mal weniger Aufregung und Gefahr, dafür bietet Max Seeck mit einer Melange aus klassischem Detektivroman, Mystery und Nordic Noir umso mehr psychologische und mystische Spannung. Zum einen bezüglich der depressiven, von Schlafstörungen und Halluzinationen geplagten Hauptprotagonistin, zum anderen bezüglich der Erzählungen um das Mädchen im blauen Mantel. Auch wenn die mystischen Elemente manchmal etwas übertrieben wirken – insbesondere, wenn Jessica "Hilfe" von ihrem ehemaligen inzwischen verstorbenen Vorgesetzten und väterlichen Freund Erne Mikson erhält, der ihr regelmäßig erscheint –, erweist sich Max Seeck abermals als Meister seines Fachs, der weiß, wie man Leser fesselt. Mit immer wieder eingestreuten kleinen Hinweisen und überraschenden Wendungen hält er die Spannung effektiv bis zum Ende aufrecht. Und weil auch noch etwas nicht Erwartbares in Jessicas Leben passiert, sind die Fäden zum Folgeband bereits gesponnen. Volltreffer!

Hintergrundinformation: Im Winter- und Fortsetzungskrieg, wie die beiden Kriege zwischen Finnland und der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges genannt werden, wurden etwa 70000 finnische Kinder nach Schweden evakuiert. Die Menschen in Schweden wollten so ihrem Nachbarland helfen. Einige Kinder wurden gar zweimal evakuiert, wenn sie nach dem Winterkrieg zurück nach Finnland kamen und wegen des Fortsetzungskrieges wieder losgeschickt wurden. Sie waren allerdings noch jung und gewöhnten sich schnell an die schwedische Sprache und die Gastfamilie. Viele vergaßen das Finnische und fühlten sich fremd, als sie wieder nach Hause kamen. Ungefähr 15000 Kinder blieben auch nach dem Krieg in Schweden und kehrten nicht wieder nach Finnland zurück. Einige der sogenannten Kriegskinder hatten jedoch für den Rest ihres Lebens Schwierigkeiten, enge Beziehungen aufzubauen, weil sie immer mit der Angst lebten, wieder getrennt zu werden.

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